Schwerlast auf Körper und Seele

Adipositaszentrum Lippe auf dem Weg zur Zertifizierung

Auch Ralf Sann wog zu Spitzenzeiten 230 Kilogramm. „Ich habe viele Diäten ausprobiert und nichts half. Deshalb ließ ich mich 2009 am Magen operieren. Das war die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt er heute. Im Klinikum Detmold fand er damals die nötige Unterstützung, um den Schritt zu gehen, der ihm, wie er selbst sagt „wahrscheinlich das Leben gerettet hat“.

Doch allein eine Magenoperation führt längst nicht zum gewünschten und vor allem dauerhaften Abnehmerfolg. „Ich bin nicht einfach in die Klinik marschiert, habe einen Teil meines Magens wegschneiden lassen und dann abgenommen. Ich musste mein Leben umstellen, insbesondere mein Ess- und Trinkverhalten. Auch vor der OP habe ich mich schon intensiv mit meiner Erkrankung beschäftigt. Deshalb engagiere ich mich seit 2008 auch in der Selbsthilfe, inzwischen sogar auf Bundesebene“ erzählt der 54-Jährige. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass der Kampf gegen Adipositas, ob mit Operation oder ohne, Teamarbeit ist und ein Leben lang anhält.

Bereits seit 2011 unterstützt Ralf Sann das Adipositaszentrum Lippe am Klinikum Detmold. Seit 2018 ist er dort als Koordinator fest angestellt und arbeitet eng zusammen mit den Klinikärzten und den Ernährungsberaterinnen. Einer seiner festen Ansprechpartner ist Dr. Michael Leitz, Leiter des Zentrums. „Wir sind hier auf chirurgische Eingriffe zur Gewichtsreduzierung und die Bedürfnisse krankhaft übergewichtiger Patienten vor und nach einer Operation spezialisiert“, berichtet er.

Die Deutschen werden immer dicker

Der Bedarf an adäquaten Behandlungsangeboten steigt ständig. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2045 ein Drittel der Deutschen an Adipositas erkrankt. Diese Entwicklung spüren Dr. Leitz und sein Team täglich. „Wir haben unsere Operationszahlen im Bereich der Adipositaschirurgie in den letzten zwei Jahren verdoppelt“ berichtet er stolz. „Das war auch Anlass, uns weiter zu professionalisieren. Ralf Sann ist seit einem Jahr unser fester Zentrumskoordinator. Das chirurgische Team wurde verstärkt und auch die Zusammenarbeit mit der Plastischen Chirurgie und den niedergelassenen Ärzten intensiviert“, sagt Leitz.

Doch die bisherigen Schritte gehen dem Klinikum Lippe noch nicht weit genug. „Vom Adipositaszentrum profitieren ja nicht nur die Patienten. Wenn man sich anschaut, wie rasant die Anzahl krankhaft übergewichtiger Menschen steigt, ist es auch für andere Abteilungen ein enormer Zugewinn, wenn hier Experten sind, die sich mit dem Krankheitsbild der Adipositas auskennen“, weiß Leitz bereits aus der bisherigen Arbeit. Aus diesem Grund macht er sich gemeinsam mit seinem Team auf den Weg, das Adipositaszentrum zertifizieren zu lassen. „Es geht nicht darum, eine Urkunde an die Wand zu hängen. Eine Zertifizierung bringt enorme Vorteile für unsere Abläufe und den Patienten die Sicherheit, die bestmögliche Behandlung zu erhalten“, so der Leiter des Adipositaszentrums.

Adipositas – Individuelle und gesellschaftliche (Schwer)Last

Bei der Adipositas-Behandlung steht neben der Gewichtsreduzierung vor allem die Verbesserung oder Beseitigung von Folgeerkrankungen – den sogenannten Komorbiditäten – im Fokus. Neben der extremen Belastung der Gelenke steigt für Übergewichtige das Risiko für Diabetes mellitus, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich. Die so entstehenden Kosten betragen jährlich circa 63 Milliarden Euro, allein in Deutschland. Diese Zahl entsteht, weil Adipositas im wahrsten Sinne krank macht.

Es ist erwiesen, dass zahlreiche Erkrankungen mit dem Übergewicht in Zusammenhang stehen. „Medizinische Studien haben gezeigt, dass durch Gewichtsreduzierung, zum Beispiel durch einen chirurgischen Eingriff, auch positive Effekte auf andere Krankheitsbilder ausstrahlen. Diese sind sowohl körperlicher als auch psychischer Natur und reichen von einem Abklingen von Depressionen über eine dramatische Verbesserung eines bestehenden Diabetes bis hin zur Reduzierung einer Inkontinenz“, erklärt Leitz.

Doch obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Adipositas als chronische Erkrankung eingestuft hat, erkennen die Krankenkassen dies bis heute nicht an. So wird der Weg für übergewichtige Patienten bis zur richtigen Therapie unübersichtlich,
hürdenreich und langwierig. Helfen können hier das Team des Adipositaszentrums
Lippe und vor allem die Selbsthilfegruppen. „Nicht jeder krankhaft Übergewichtige möchte sich operieren lassen. Das ist vollkommen ok. Wir zeigen alle Wege auf, die den
Betroffenen offenstehen. Wir vermitteln Informationen und Ansprechpartner, aber bieten auch ganz konkrete Aktionen an, wie gemeinsames Kochen oder Unternehmungen. Vor allem ist uns aber auch die Aufklärung wichtig. Adipositas ist eine Krankheit und kein Ausdruck eines maßlosen Lebensstils. Den Betroffenen muss geholfen werden“, betont Ralf Sann.

Nach der erfolgreichen Gewichtsreduzierung geben 95 Prozent der Adipositaspatienten an, dass sich ihre Lebensqualität verbessert hätte. Ganz nach Westernhagens Textzeile „…dünn bedeutet frei zu sein“ genießen die Betroffenen ihr Leben ganz neu – mit weniger Last auf Seele und Körper.