Mit überschaubaren Mitteln viel erreichen
Gesundheitsstrukturen weiter denken: Wie kann die gesundheitliche Versorgung in kleinen Ortsteilen flächendeckend und langfristig gesichert werden? Diese Fragen stellten sich die Stadt Lemgo, die Diakonie ambulant gGmbH und das Klinikum Lippe im Jahr 2020. Die Antwort war der Gesundheitskiosk Hörstmar, der im Dezember 2020 an den Start ging. Zwei Pflegefachkräfte informieren und beraten seitdem regelmäßig „mitten im Dorf“ zu verschiedensten Anliegen rund um das Thema Gesundheit. Wir haben mit Anja Rethmeier-Hanke, Ansprechpartnerin für den Gesundheitskiosk Hörstmar am Klinikum Lippe, und den Kiosk-Mitarbeiterinnen Emma Smoljanow und Cornelia Lefarth gesprochen.
Frau Rethmeier-Hanke, gibt es in einem Gesundheitskiosk gesunde Sachen?
Anja Rethmeier-Hanke: Ja, die „gesunde Sache“ ist die Information bzw. Beratung und Hilfestellung. Das Großartige ist: Die gibt es auch noch umsonst. Der Alten Hansestadt Lemgo ging es im Jahr 2020 darum, hier vor Ort – in Hörstmar – ein Gesundheitsangebot zu schaffen, wo jeder einfach so vorbeischauen kann. Beim Kiosk um die Ecke weiß ich ja auch, wer mich erwartet, wann geöffnet ist und was es so gibt. Genau das haben wir auf das Thema Gesundheit umgemünzt: Zwei erfahrene Krankenschwestern informieren zu bekannten Öffnungszeiten rund um das Thema Gesundheit. Weil es sich um gut ausgebildete und sehr erfahrene Kräfte handelt, wird aber nicht nur allgemein zu Gesundheitsthemen im Stil einer TV-Zeitschrift oder Ähnlichem informiert, sondern ganz fundiert beraten und geholfen. Gerade was den Umgang mit chronischen Erkrankungen, aber auch Orientierung im Gesundheitssystem angeht, besteht ein großer Beratungsbedarf. Außerdem messen die Kolleginnen im Kiosk beispielsweise auch den Blutdruck oder führen einen Blutzuckertest durch.
Wie sieht die Arbeit des Gesundheitskiosks Hörstmar ganz praktisch aus?
Rethmeier-Hanke: Die Menschen kommen mit ganz unterschiedlichen Anliegen zu uns und in einigen Fällen besuchen wir die Menschen auch zu Hause. Die Ratsuchenden leben vorwiegend in Hörstmar, aber auch in Lemgo und Umgebung. Einige machen einen Termin, andere kommen ganz spontan vorbei und das ist auch okay so.
Fast alle haben sich mit dem Anliegen, das sie umtreibt schon eine ganze Zeit beschäftigt. Da ist z. B. ein Mensch mittleren Alters, der mit einer neuen Diagnose konfrontiert wird. Das muss gar nichts Bösartiges sein, aber eben eine Diagnose, die für den Rest des Lebens bleibt und Konsequenzen für die künftige Lebensführung hat. Hausärztin oder Klinikarzt haben im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten informiert, aber erst zu Hause kommen nach und nach die Fragen auf.
Dann wird erstmal das Netz befragt, – würden wir ja auch so machen – mit dem Resultat, dass die Verwirrung jetzt perfekt ist. Im Internet gibt es 13 Millionen deutschsprachige Webseiten zu Gesundheitsthemen. Das ist Vielfalt ohne Qualitätssicherung, also eine „Infodemie“. Darunter die wenigen Angebote mit qualitätsgesicherter, verständlicher Information zu finden, ist nicht leicht. Wir vermitteln im Gesundheitskiosk und in unseren Veranstaltungen daher auch digitale Gesundheitskompetenz und erleben Begeisterung, wenn wir mit den Leuten auf hochwertige und verständliche Infoseiten navigieren.
Dann gibt es immer wieder ersonen, die mit einem sehr komplexen Gesundheitsproblem oder einer „Reha- Geschichte“ kreuz und quer durch das Gesundheitssystem rotieren. Hier geben wir Orientierung, welche Stelle für das Problem zuständig ist und vereinbaren bei Bedarf auch einen Termin. Außerdem haben wir regelmäßig Anfragen bei Problemen mit Antragstellungen, zum Beispiel bei Kostenträgern.
Beratungsbesuch im Oktober 2022
Ein anonymisierter Bericht von Cornelia Lefarth
Nach einem Anruf vor zwei Tagen kam heute eine ältere Dame in den Gesundheitskiosk. Sie fragte nach einer Beratung, da sie im Sommer den Pflegegrad 1 bewilligt bekommen hat, aber vieles nicht einordnen kann. Die Besucherin leidet unter Parkinson mit leichten Einschränkungen beim Gehen, fährt aber noch selbst Auto. Ihr Ehemann unterstützt sie im Haushalt. Im Gutachten des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) wurden mehrere Hilfsmittel empfohlen, nämlich ein Rollator, eine Toilettensitzerhöhung und ein Wannenlifter. Die ältere Dame wusste aber nicht, wie sie an diese Hilfsmittel kommt. Ich habe ihr den Ablauf erklärt und aufgeschrieben. Sie benötigte zunächst ein Rezept vom Arzt, dann eine Genehmigung durch die Krankenkasse und würde die Hilfsmittel dann im Sanitätshaus erhalten.
Die Krankenkasse hatte auch eine Liste von Anbietern für die Entlastungsleistung mitgeschickt. Hier war die Besucherin unsicher bei den Kriterien, wonach sie daraus jemanden aussuchen soll. Ich habe sie auf die Fakten Entfernung, Stundenlohn und inkludierte Leistungen hingewiesen, aber auch die Sympathie sollte stimmen. Zudem wäre so ein Vertrag auch kündbar, falls sie unzufrieden ist. Zusätzlich habe ich die Besucherin über weitere Unterstützungsangebote wie die 40-Euro-Pauschale für Pflegeverbrauchsmittel und Zuschüsse zu Umbaumaßnahmen hingewiesen.
Da auch bei Pflegegrad 1 halbjährlich ein Recht auf Beratung durch einen Pflegedienst besteht, kann sie sich auch vor Ort beraten lassen oder den Pflegestützpunkt des Kreises Lippe um Beratung bitten. Die Besucherin äußerte sich sehr zufrieden über das Gespräch und freute sich über den Hinweis, dass sie bei Fragen jederzeit zu den Öffnungszeiten im Kiosk anrufen kann.
Was macht der Gesundheitskiosk noch?
Rethmeier-Hanke: Eher aus anfänglicher Verlegenheit – damit sich die Menschen in den damals unbekannten Kiosk „trauten“ – haben wir im Frühjahr 2021 mit Fachvorträgen unter dem Titel „Der Gesundheitskiosk lädt ein“ begonnen. Das ist dann nach und nach ein Selbstläufer geworden. Teilweise schlagen die Besucher der Themenabende künftige Themen direkt vor.
Ein Vorteil: Als großes kommunales Krankenhaus kann das Klinikum Lippe hier fast jedes Thema abdecken und für Spezialgebiete rund um die Pflegeversicherung ist unser Partner Diakonie ambulant ein exzellenter Ansprechpartner.
An solchen Abenden, in der Regel am dritten Donnerstag im Monat, informieren wir zwischen 15 und 35 Gäste. Manche habe sich vorbereitet und warten schon darauf, nach dem Vortrag gezielte Fragen an den oder die Expertin stellen zu können. Die Vortragenden waren bislang Krankenschwestern und Krankenpfleger, Physiotherapeuten, eine Ernährungsberaterin und zwei unserer Klinikapothekerinnen. Insgesamt haben wir bisher zwölf Vorträge mit bunter Themenpalette angeboten: Rücken & Gelenke, Gesundheitsinformationen im Internet, Schlaganfall, Diabetes mellitus, Morbus Parkinson, Stürze, korrekte Nutzung von Pflegehilfsmitteln, Polymedikation, Antibiotika und gesunde Ernährung.
Am 15.12. wagen wir ein neues Format: „Kino im Kiosk“. Gemeinsam mit unseren „Nachbarn“ im Dorfbegegnungszentrum Hörstmar, dem DACH e.V., zeigen wir den Kinofilm „Honig im Kopf“, der die Krankheit Alzheimer thematisiert. So ein Filmabend kann ein guter Impuls für Beratungen und Gespräche sein. Auch im neuen Jahr sind wir aktiv: Im Januar steht mit COPD – Chronisch Obstruktive Lungenerkrankung – das Thema Lungenerkrankungen auf dem Plan. Im Februar dann eine Kooperationsveranstaltung mit der KITA in Hörstmar. Außerdem informieren wir noch einmal separat zum Thema Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung sowie zum Thema Intensivmedizin. Gemeinsam mit der TH OWL testen wir aktuell außerdem einen Prototypen für ein „Digitales Case Management“.
Gesundheitskiosk ist aktuell ein politisches Thema. Den GKH gibt es aber bereits seit 2020. War Lippe hier Vorreiter?
Rethmeier-Hanke: Auf jeden Fall. Als wir gemeinsam mit der Alten Hansestadt Lemgo und Diakonie ambulant den Kiosk ab Sommer 2020 konzeptionell vorbereitet haben, war das noch ein echtes Nischenthema und wir haben nicht gedacht, dass es so schnell auf die gesundheitspolitische Agenda gerät. Der Vorzeigekiosk in Hamburg- Billstedt hat vor kurzem sein fünfjähriges Jubiläum gefeiert. Wir haben diesen Großstadt-Ansatz für soziale Brennpunkte aber für den ganz normalen ländlichen Bereich umgestrickt – also fünf Nummern kleiner und auch mit etwas anderen Schwerpunkten. Auf dem Land geht es ja beispielsweise auch immer um die Sicherung der Gesundheitsversorgung. Erst seit diesem Jahr gibt es auch Kioskprojekte in Essen, Köln und Aachen.
Was passiert nach der Förderphase?
Betrieb eines Gesundheitskiosks ist eine gesicherte Finanzierung wichtig. In örstmar wird der Kiosk jetzt mit LEADER-Mitteln der EU und zusätzlichen Finanzmitteln der Alten Hansestadt Lemgo gefördert. Das endet aber spätestens Ende 2023. Das Modell „Hörstmar“ lässt sich sehr gut auf andere Dörfer und Kleinstädte übertragen. Für eine weitergehende Finanzierung sehen wir grundsätzlich auch die Krankenkassen in der Pflicht, die ja ein ureigenes Interesse an der Gesunderhaltung ihrer Versicherten haben. Die Kosten zum Betrieb von Gesundheitskiosken auf dem Land sind unsers Erachtens gut kalkulierbar. An dieser Stelle kann – im Gegensatz zu anderen Themenbereichen im Gesundheitswesen – mit überschaubaren Mitteln viel erreicht werden.