Digitalisierung im Gesundheitswesen
„Cyber-Angriff auf die Uniklinik Düsseldorf“: Diese Schlagzeile sorgte im September 2020 für Irritation bei vielen Patienten und Unruhe in so mancher IT-Abteilung deutscher Krankenhäuser. Der von Hackern gesteuerte IT-Ausfall war tatsächlich so massiv, dass die gesamten EDV-Systeme der Uniklinik für mehrere Wochen stark beeinträchtigt waren. Derartige Vorfälle sorgen für Verunsicherung. Elektronische Patientenakte, Krankenhausinformationssysteme, Online- Sprechstunde, Operationsroboter: IT-Systeme sind heute im Krankenhaus allgegenwärtig. Doch ist die zunehmende Abhängigkeit der Ärzte und Pflegekräfte von IT-gestützter Medizin Segen oder Fluch?
Dr. Uwe Andreas Amann ist Mediziner und IT-Mann mit Leidenschaft. Im Jahr 2017 wurde er zum Vorsitzenden des Instituts für Digitalisierung im Gesundheitswesen berufen. Die pragmatische und lösungsorientierte Gestaltung fachund branchenübergreifender Informationstechnik ist sein Antrieb. Seit Januar ist er CIO im Klinikum Lippe und auch Mitglied der Geschäftsleitung. Amanns Ziel ist es, hier in Lippe ein hocheffizientes digitales Krankenhaus aufzubauen. Die Möglichkeiten der datengetriebenen Medizin will er für Patienten und Mitarbeiter nutzbar machen und die langfristige Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses durch eine konsequente Digitalisierung sicherstellen. Im Interview hat er der Redaktion mehr über aktuelle Trends, Chancen und seine Ziele am Klinikum Lippe verraten.
Sie haben Humanmedizin studiert und sind dann in die Wirtschaft und IT gewechselt. Wie passt das zusammen?
Schon während meines Medizinstudiums habe ich die hohe Ineffizienz der Prozesse im Gesundheitswesen erkannt. Der Anteil an administrativer Tätigkeit war hoch und ist seitdem immer stärker gestiegen. Wertvolle Zeit für die persönliche Betreuung des Patienten, für den Austausch mit Angehörigen und für zwingend notwendige Abstimmung mit Kollegen, wurde durch Dokumentations- und Administrationsarbeiten quasi aufgefressen. Dies geht immer zu Lasten der Qualität der Versorgung.
Die Erfahrung die ich als Unternehmensgründer und Partner einer internationalen Unternehmensberatung aus unterschiedlichsten Industrien gewonnen habe, zeigten mir, dass auch ein Krankenhaus so betrieben werden kann, dass Ineffizienzen beseitigt und Schwachstellen behoben werden. Nur so kann aus meiner Sicht die Patientenbetreuung optimal und wieder menschlicher werden.
Was sind die Trends bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen?
Gerade im Gesundheitswesen führt die Digitalisierung nicht nur zu einer Transformation, sondern sogar zu einer Revolution. Ich kenne praktisch keine Branche, in der die Ineffizienz aktuell noch höher ist als im Gesundheitswesen. Erst kürzlich musste ich als Patient eines anderen Krankenhauses selbst erlebt, dass meine Personendaten während des stationären Aufenthaltes sechs Mal erfasst wurden. Sogar medizinisch relevante Daten waren bei meiner Reise durch die Abteilungen nicht oder nur unvollständig verfügbar und haben permanent zu Doppelarbeiten geführt. Aus meiner Sicht sind für das Gesundheitswesen deshalb drei Handlungsfelder in Bezug auf die Digitalisierung besonders wichtig:
Der Patient steht immer Mittelpunkt – auch bei der Digitalisierung! Insbesondere in der Dienstleistungsindustrie hat man schon vor langer Zeit erkannt, dass der Kunde gewillt ist, sich anders an den angebotenen Diensten zu beteiligen. So ist es heute absolut normal, dass man bei einer Flugreise vorab selbst eincheckt. Das kann man auch im Krankenhaus umsetzen. Die Interaktion zwischen dem Patienten und dem medizinischen Personal wird so neu geordnet, dass mehr Zeit bleibt für persönliche und menschliche Betreuung.
Der vielleicht wichtigste Beitrag der Digitalisierung liegt aus meiner Sicht in der Effizienzsteigerung. Dies bezieht sich zum einen auf die internen Prozesse im Krankenhaus, auf die enorm wichtige Versorgungslogistik oder die oftmals ineffizienten Abläufe. Die Realität zeigt, dass die Kollegen im Krankenhaus diese Schwachstellen oftmals zwar erkennen, aber es fehlt ihnen die Erfahrung aus anderen Branchen wie sie behoben werden könnten. Zum anderen wird durch die Digitalisierung die Art der medizinischen Therapie verändert. In unzähligen Studien und praktischen Versuchen wurde gezeigt, dass Expertensysteme den Arzt bei seiner Arbeit, bei der Diagnostik und der Therapie unterstützen können. Im Klinikum Lippe haben wir schon hervorragende Ärzte und müssen nun nur dafür sorgen, dass diese Experten Werkzeuge erhalten, um den Nutzen der neuen Informationssysteme im Sinne des Patienten einsetzen zu können.
Der dritte Schwerpunkt ist der Aufbau von Patientenservices. Auch hier hat sich gezeigt, dass der Patient mit digitalen Helfern deutlich besser die eigene Gesundheit in den Griff bekommen kann. Die kontinuierliche Blutzuckermessung, in der kein mehrmals tägliches Fingerstechen notwendig ist, ist ein gutes Beispiel dafür, dass mittels der Digitalisierung auch die Lebensqualität der Patienten erhört werden kann. Es ist mein erklärtes Ziel solche digitalen medizinischen Gesundheitsservices zu entwickeln, zu erproben und den Bürgern der Region zur Verfügung zu stellen. In enger Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten, allen Einrichtungen im Gesundheitswesen, unserem Krankenhaus und den Patienten können so neue Dienste entstehen für unsere Region und sogar darüber hinaus.
Wo liegen die Chancen für die Menschen in Lippe?
Ich komme persönlich aus Köln und immer, wenn ich das erwähne kommt die Frage: Warum Lippe? Schon beim ersten Gespräch mit dem Geschäftsführer, Herrn Dr. Hütte, sind mir die enormen Chancen, die hier bestehen bewusst geworden. Das richtige Mindset in der Krankenhausführung, eine Region mit ausgeprägtem Lokalpatriotismus und vor allem schon bestehende Strukturen für eine echte intersektorale Versorgung. Hier in Lippe gibt es die Möglichkeit bestmögliche Gesundheitsversorgung auf höchstem Niveau anzubieten. Als meine Aufgabe sehe ich es an, dass Krankenhaus in der Digitalisierung zu führen und sogar zu einer Modellregion für eine bezahlbare Maximalversorgung im ländlichen Bereich auszubauen.
Eine weitere Chance dieser Region liegt aber in der Bevölkerung und der Bereitschaft auch aktiv mitzuwirken an der Entstehung der bestmöglichen medizinischen Versorgung. Wenn die Schnittstellen zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten, zwischen Therapeuten und Apothekern, zwischen allen an der Gesundheit fördernden beteiligten Akteuren nicht optimal funktioniert, kommt es zu Ineffizienzen, die zwangsläufig zur Qualitätseinbußen führen.
Damit die Struktur, die wir zurzeit schaffen, den Nutzen voll entfalten kann, braucht es zwingend die Unterstützung der Bürger aus der Region. Der Patient muss das Gesundheitsnetzwerk beleben und einen Datenfluss zulassen. Wir wollen eine Weltklasse-Gesundheitsregion schaffen und ein System, das die Interessen des Patienten in den Mittelpunkt stellt. Das geht nur gemeinsam.
Wo liegen die Gefahren?
Es besteht eine verständliche und auch im Prinzip gesunde Skepsis beim Umgang mit persönlichen Daten. Aus diesem Grund investiert das Krankhaus zurzeit massiv in eine Modernisierung der IT-Infrastruktur. Um so mehr die Vorteile der Digitalisierung genutzt werden, um so höher ist die Abhängigkeit und die Verwundbarkeit. Über technische Verfahren, operative Maßnahmen und strukturelle Elemente schaffen wir für Lippe eine Modellregion, die zeigt, wie Patienten selbstbestimmt und transparent den Prozess unterstützen können aus Daten Informationen und letztlich Wissen zu machen. Wissen, welches dann dem Patienten wieder zugutekommen wird.
Wenn wir die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht nutzen wird die Qualität der medizinischen Versorgung sinken, die Kosten unverhältnismäßig steigen und letztlich die Zukunftssicherheit des Krankenhauses gefährdet sein. Meine Familie und ich leben und auch in dieser Region und so habe ich sogar ein persönliches Interesse hier auch langfristig eine Spitzenversorgung zu ermöglichen.
Was sind die nächsten konkreten Schritte am Klinikum Lippe im Rahmen der Digitalisierung?
Das Jahr 2020 und 2021 ist davon geprägt, die Grundlagen für eine nachhaltige Digitalisierung zu schaffen. Eine konsequente Prozessunterstützung im Bereich Patientenaufnahme, Patientenübergabe an niedergelassen Ärzte und in der Logistik stehen hier im Mittelpunkt. In einer zweiten Phase werden Expertensysteme für den ärztlichen Dienst und die Pflege aufgebaut, wobei die Bildgebung und die molekularen Verfahren nur einige Beispiele darstellen. Außerdem werden schon Anfang 2021 die ersten Patientenservices erprobt, welche eine verbesserte Kommunikation ermöglichen sollen.