Ein großes Plus für die Gesundheitsregion Lippe
Deutschland hält im europäischen Vergleich die meisten Intensivkapazitäten vor. Eine immer größere Rolle kommt dabei den sogenannten Weaning-Zentren zu. Das Klinikum Lippe hat sich deshalb vor gut einem Jahr auf den Weg gemacht, die Weaningstation am Standort Lemgo durch die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin als Zentrum zertifizieren zu lassen. Mit Erfolg!
Dr. Maik Brandes ist seit November 2019 Chefarzt der Klinik für Pneumologie, Schlaf- und Beatmungsmedizin am Klinikum Lippe. Eines seiner ersten großen Ziele hat er mit der Zertifizierung des Weaning-Zentrums erreicht. Im Interview hat er mehr über diesen besonderen Bereich, die Zertifizierung und seine weiteren Pläne verraten.
Herr Dr. Brandes, was bedeutet Weaning überhaupt?
Der Begriff „weaning“ kommt aus dem Englischen und bedeutet wortwörtlich übersetzt „Entwöhnung des Säuglings vom Stillen“. In der Medizin setzen wir die Bezeichnung weaning allerdings im übertragenen Sinne ein und meinen damit das Abtrainieren des Patienten von einer Beatmungsmaschine hin zur selbstständigen, der sogenannten spontanen Atmung.
Dr. Maik Brandes mit einem Teil seines Teams bei der Visite im Weaning-Zentrum
Und was ist das Besondere an einem Weaning-Zentrum?
Ein Weaning-Zentrum besteht im Kern zunächst aus einer Überwachungsstation. Allerdings ist sie personell und technisch gesehen der Zwischenschritt von der Intensivstation hin zur Normalstation ohne Patientenüberwachung. Bei Patienten, die eine schwere Erkrankung oder Operation hatten, kann die Entwöhnung von der künstlichen Beatmung Probleme bereiten. Dies ist besonders häufig bei Patienten der Fall, deren Lunge bereits vorgeschädigt ist. Die akute Erkrankung und der Aufenthalt auf der Intensivstation führen dann zu einem Kräfteverfall. Die Atemmuskulatur ist nicht in der Lage, den Körper mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff zu versorgen. Zusätzlich beobachten wir bei fast allen Patienten in dieser Phase eine ausgeprägte Depression oder Delir, die auch für die Angehörigen belastend sind. Wichtig ist es nun, Zukunftsperspektiven für die Betroffenen und ihre Familien aufzuzeigen, denn ein Daueraufenthalt im Krankenhaus und künstliche Beatmungszugänge sind für niemanden erstrebenswert. Das Ziel des Aufenthaltes im Weaning- Zentrum ist es, von der mechanischen Beatmung vollständig entwöhnt zu werden und wieder möglichst eigenständig zu atmen.
Was macht das Team eines Weaning-Zentrums ganz konkret?
Die Entwöhnung von der Beatmungsmaschine ist für unser Team Teil eines ganzheitlichen Therapiekonzeptes. Wesentlich beeinflusst wird der Therapieerfolg vom gründlichen Aufnahme- Assessment. Wir erfassen also ganz genau alle bekannten Fakten, die für die Behandlung des Patienten wichtig sind. Dabei stehen die individuellen Probleme des Betroffenen für uns im Mittelpunkt. Das kann die Überwindung einer akuten Verschlechterung einer COPD sein oder auch das Überstehen eines großen operativen Eingriffs wie ein Kunstherz. Im interdisziplinären Team besprechen wir dann regelmäßig den aktuellen Zustand des Patienten sowie die Verbesserungen. Die Therapie wird dann schrittweise an die Bedürfnisse angepasst. So ermöglichen wir es dem Patienten, immer selbstständiger zu werden – bezogen auf die Atmung, aber möglichst auch auf die Verrichtung von Alltagsdingen wie eigenständiges Essen oder der Gang zur Toilette. Durch den engen Kontakt zur Klinik für Neurologie oder zu den anderen Fachabteilungen im Hause können wir auf alle medizinischen Belange unserer Patienten individuell und schnell eingehen. Ganz besondere Bedeutung kommen in diesem Prozess den Pflegekräften und Atmungstherapeuten zu. Sie begleiten,pflegen und motivieren die Patienten. Manchmal sind sie auch einfach nur Tröster und teilen die Hauptlast dieses schweren Weges mit den Betroffenen.
Sie sprachen die belastende Situation für Angehörige an. Werden diese auch einbezogen?
Ja, natürlich. Angehörige sind ein wichtiger Faktor zum Gesundwerden. Sie helfen dabei, den Patienten Schritt für Schritt wieder in ein „normales“ Leben zu begleiten. Um die bestmögliche familiäre Unterstützung zu gewährleisten, besteht für Angehörige die Möglichkeit, während der Entwöhnungsphase Gästeappartements auf dem Klinikgelände zu beziehen.
Leben Intensiv – Selbstbestimmt Leben in der Wohngemeinschaft ist möglich, wenn eine Beatmungsentwöhnung einmal nicht erfolgreich ist.
Was passiert, wenn eine Entwöhnung von Beatmungsmaschinen nicht gelingt?
Sollte nach dem Klinikaufenthalt ein Leben in der bisherigen Umgebung nicht möglich sein, gibt es Alternativen. Auf dem Gelände des Lemgoer Gesundheitscampus beispielsweise gibt es für intensivpflegebedürftige und langzeitbeatmete Menschen die Wohngemeinschaft „Leben intensiv“, eine Kooperation des Klinikums mit dem Diakonie ambulant e.V. In den Wohngruppen finden Intensiv- und Beatmungspatienten ein neues Zuhause. Die Rund-um-die-Uhr-Versorgung in familiärer Atmosphäre nimmt Rücksicht auf die Bedürfnisse des Einzelnen und fördert die noch vorhandenen individuellen Fähigkeiten.
Noch einmal zurück zum Weaning- Zentrum: Warum ist es wichtig für das Klinikum Lippe und die Region?
Die Zahl beatmeter Patienten steigt deutschlandweit kontinuierlich an. Diese Entwicklung ist gut, denn dank moderner Beatmungs- und Intensivmedizin kommen Patienten heute auch nach schwersten Verletzungen oder Erkrankungen in den meisten Fällen wieder auf die Beine. Nun müssen sich aber die medizinischen Experten, die Fachgesellschaften und die Intensivstationen, sprich die Krankenhäuser, überlegen, wie man diesem steigenden Bedarf gerecht wird. Ein Weaning- Zentrum ist aus medizinischer wie betriebswirtschaftlicher Sicht ein Gewinn für jedes Krankenhaus.
Generell kann man ja feststellen, dass die Spezialisierung in der Medizin immer wichtiger wird. Das gilt eben auch für die Intensivmedizin am Klinikum Lippe. Am Standort Lemgo ist die Intensivmedizin pneumologisch-internistisch ausgerichtet. Das ist sinnvoll, weil meine Abteilung mit den entsprechenden Ressourcen in Lemgo ist. Die kardiologisch-internistische Intensivstation befindet sich dagegen am Standort Detmold, wo auch die Klinik für Kardiologie angesiedelt ist.
Diese Struktur gewährleistet uns in Lemgo eine beatmungszentrierte Betreuung insbesondere von Patienten mit ausgeprägten Lungenerkrankungen. Unser erfahrenes Team betreut sowohl die Intensivstation als auch das Weaning-Zentrum. So gewährleisten wir eine kontinuierliche Betreuung unserer Patienten nach den Standards der Fachgesellschaften. Dieses Zusammenspiel und die Kontinuität der Ansprechpartner für Angehörige und ärztliche Kollegen sind ein großer Vorteil und wirken sich nachweislich positiv auf den Krankheitsverlauf aus.
Im Juli 2020 wurde Ihre Klinik als Weaning-Zentrum von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zertifiziert. Warum war dieser Schritt notwendig?
Zertifizierungen sind im Moment des Zertifizierungsprozesses, also von der ersten Überlegung, sich überhaupt zertifizieren zu lassen, über die Anmeldung und die Anpassung von Prozessen bis hin zum Prüf-Audit, absolute Zeit- und Ressourcenfresser.
Das Team hat über Monate intensiv an der Zertifizierung gearbeitet. Natürlich stand unsere Abteilung in dieser Zeit nicht still. Patienten mussten versorgt werden und auch Corona hat uns als Lungenfachleute parallel gefordert. Das klappt alles nur mit hochmotivierten Mitarbeitern. Aber: Ich bin der festen Überzeugung, dass sich unsere Mühen gelohnt haben – sowohl für die Abläufe vor Ort, die wir optimieren konnten, und das Team als am Ende auch für unsere Patienten und die Region. Wir haben jetzt nach dem Durchlaufen dieses arbeitsreichen Prozesses einen verlässlichen Standard aufgebaut, der uns künftig Arbeiten erleichtert und die Qualität unserer Arbeit nachhaltig sichert.
Bringt ein Weaning-Zentrum in Coronazeiten Vorteile mit sich?
Na klar. Einerseits verfügen wir am Klinikum Lippe über mehr Beatmungsbetten. Das ist ein entscheidender Vorteil insbesondere in der Pandemie. Andererseits ist der Abfluss für die Intensivstationen verbessert. Auf den Intensivstationen findet Akutmedizin statt. Bei einem Covid-Patienten kann ein Aufenthalt auf der Intensivstation mehrere Wochen andauern. Am Klinikum Lippe können Patienten, die nicht mehr die akutmedizinische Versorgung auf der Intensivstation benötigen, aber auch noch nicht auf eine normale Station verlegt werden können, im Weaning-Zentrum versorgt werden. Das bringt Vorteile für den Patienten und das Krankenhaus, denn der Patient erhält die optimale Versorgung und auf der Intensivstation stehen wieder mehr Akutbetten bereit. Außerdem haben wir durch das Weaning-Zentrum nun auch einfach mehr Geräte und ärztliches sowie pflegerisches Personal, welches Intensivmedizin und Beatmungsmedizin beherrscht. Für ein Krankenhaus ist das eine wertvolle Ressource.
DGP-zertifiziertes Weaning-Zentrum: Das Team ist stolz auf die gemeinsame Leistung.
Was sind Ihre nächsten Ziele?
Die Zertifizierung des Weaning- Zentrums gilt, wie bei allen Zertifizierungen durch anerkannte Fachgesellschaften, nicht unendlich. Wir haben die Auszeichnung für drei Jahre erhalten und müssen uns dann wieder den kritischen Auditoren stellen. Es wäre sowieso falsch, nun an diesem Punkt stehen zu bleiben. Wir wollen und müssen uns weiterentwickeln, wenn wir gute Medizin machen wollen. Hierbei denke ich nicht nur an unsere Patienten und die Region. Auch die Nachwuchskräfte von heute schauen, welche Besonderheiten eine Klinik bietet. Im Bereich der Pneumologie und Beatmungsmedizin sehe ich uns gut aufgestellt. Aber man kann natürlich immer noch besser werden.
Durch die DGP-Zertifizierung und die hervorragende Arbeit des Teams nach höchsten qualitativen Standards werden immer mehr Zentren und auch andere Krankenhäuser auf uns aufmerksam. So betreuen wir beispielsweise viele Patienten aus dem Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen weiter oder auch von der Medizinischen Hochschule Hannover. Darunter sind sogar Patienten mit Kunstherzen oder nach einer Transplantation mehrerer Organe. Das ist hochanspruchsvolle Medizin. Diese Zusammenarbeit auch außerhalb des Klinikums zu festigen und auszubauen ist spannend. Außerdem ist es unser Anspruch, unsere Arbeit immer mehr auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben, um die Beatmungsmedizin weiter voran zu bringen und Entwicklungen in diesem Fachbereich aktiv mit zu gestalten.
Parallel arbeiten wir an vielen Projekten, um unsere Patienten auch nach dem Weaning so zu betreuen, dass sie von unserer Expertise profitieren. Wir engagieren uns beispielsweise in der Versorgung ambulant beatmeter Patienten vor Ort in ihren Einrichtungen oder per Telemedizin. Wichtig ist uns dabei aber nicht nur die bestmögliche Betreuung der Patienten, sondern auch die wissenschaftliche Begleitung dieses Neulandes in Studien. Insofern hoffen wir, auch in den nächsten Jahren immer wieder von Weiterentwicklungen, Verbesserungen und neuen Projekten berichten zu können.